Ständige Erreichbarkeit – Fluch oder Segen?

Ständige Erreichbarkeit – Fluch oder Segen?

Weltweit werden die Kommunikationsnetze immer mehr ausgebaut. Über sie gelangen Anrufe, Kurznachrichten und E-Mails in unglaublicher Geschwindigkeit rund um den Globus. Sie erreichen Unternehmer wie Angestellte auch ausserhalb ihrer Büros und auch nach den regulären Geschäftszeiten. Selbst im Urlaub sind Entscheider nicht mehr sicher vor den Nachrichten auf dem Smartphone, Notebook oder Tablet: WhatsApp, SMS, E-Mail, Twitter, Slack und Facebook. Meistens ist die ständige Erreichbarkeit per Handy in der öffentlichen Wahrnehmung negativ besetzt. Ist die ständige Erreichbarkeit daher nun ein Fluch – oder doch ein Segen? Eine Studie der Uni Darmstadt kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis.

Beruf und Privatleben lassen sich dank mobiler Kommunikationskanäle besser vereinbaren

Das Fachgebiet Marketing und Personalmanagement der Technischen Universität Darmstadt untersucht derzeit unter der Leitung von Prof. Dr. Ruth Stock-Homburg die Konsequenzen der ständigen Erreichbarkeit durch mobile Kommunikationskanäle. Solche Studien gab es schon früher – neu ist allerdings, dass hierbei die Wissenschaftler nicht nur die Konsequenzen der beruflichen Kommunikation im Privatalltag erforschen, sondern zum ersten Mal nun auch, welche Auswirkungen eine private Kommunikation während der Arbeitszeit hat.

Für die Studien wurden über 550 Personen über mehrere Wochen hinweg regelmässig per Fragebogen interviewt; nun liegen die ersten Erkenntnisse vor. Neben den bereits bekannten Nachteilen der ständigen Erreichbarkeit – aktuelle Tätigkeiten werden unterbrochen und der Empfänger der Nachricht wird Stress ausgesetzt – zeigt das Ergebnis der Studie aber auch, dass die so gewonnene Flexibilität von den meisten Menschen als positiv empfunden wird.

Fast Dreiviertel der Befragten stuften die Grenze zwischen Geschäfts– und Privatalltag als fliessend ein. Das wird erst durch die neuen Kommunikationstechnologien im mobilen Bereich möglich. Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass sich jemand während eines Meetings mit Handwerkern abstimmen kann, die gerade in den eigenen vier Wänden tätig sind. Genau diese Flexibilität werten die Studienteilnehmer als sehr positiv. So lassen sich Leerlaufzeiten im Geschäft besser nutzen und es kann unkompliziert zwischen beruflichen und privaten Themen gewechselt werden – auf diese Weise lassen sich letztlich Privatleben und Arbeit besser vereinbaren.

Die Hochschul-Studie zeigt, dass mobile Kommunikation nicht immer nur gut oder schlecht ist – vielmehr kommt es auf die jeweiligen Rahmenbedingungen der Nutzung an. Kann ein Nutzer frei darüber entscheiden, wie häufig und wie lange er kommunizieren kann, überwiegen anscheinend die Vorteile. Entscheidend für das Stresslevel ist zudem nicht das Ausmass der ständigen Erreichbarkeit, sondern vielmehr die persönliche Zufriedenheit durch die Erreichbarkeit. Daher ist auch das Abschalten von E-Mail-Servern, wie es derzeit in einigen Unternehmen praktiziert wird, keine Lösung, da nicht die hohe Erreichbarkeit an sich das Problem ist.

Ständige Erreichbarkeit verbessert Flexibilität und steigert Produktivität

Durch die rasante Verbreitung der mobilen Endgeräte steigt die Nachrichtenflut kontinuierlich. Auch wenn es der jüngeren Generation gar nicht so bewusst ist: Es gab auch einmal eine Arbeitswelt vor der Einführung des Internets, den Mobilfunknetzen und somit der ständigen Erreichbarkeit im Berufsleben. Damals hiess es noch viel Geduld mitbringen: Anfragen wurden erst nach vielen Tagen beantwortet – und zwar schriftlich auf dem Postweg. Oder der gewünschte Gesprächspartner war telefonisch nicht zu erreichen, weil er gerade ausser Haus war. Das ging damals zulasten der Produktivität und war insbesondere in dringenden Fällen sehr ärgerlich.

Heute können KMU dank des technischen Fortschritts und aufgrund der vielen universellen Kommunikationsmöglichkeiten deutlich einfacher und schneller Verantwortliche und Mitarbeiter erreichen. Und in ganz dringenden Fällen sogar ausserhalb der Geschäftszeiten. Dadurch lassen sich unaufschiebbare, dringende Probleme deutlich schneller lösen, es werden Kosten vermieden und Produktivitätsgewinne erzielt. Durch die verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten müssen Arbeitnehmer und Verantwortliche nicht mehr zwangsläufig ständig im Büro anwesend sein und dort arbeiten. In vielen Berufen ist es möglich, auch an anderen Orten tätig zu sein, zum Beispiel im Home Office. Schliesslich ist auch dort gewährleistet, dass der Ansprechpartner trotzdem jederzeit erreichbar ist.

In einigen Bereichen ergeben sich so immer wieder attraktive Chancen, die von kurzfristiger Dauer sind und schnell genutzt werden müssen – zum Beispiel bei Tradern. Unter Umständen muss der Vorgesetzte ständig erreichbar sein und zeitnahe Entscheidungen treffen oder mit seinem Rat zur Entscheidungsfindung beitragen. Ansonsten drohen Verluste oder Gewinneinbussen. Unternehmen, die ihr Personal zeitlich- und ortsunabhängig erreichen können, haben gegenüber dem Mitbewerber komparative Vorteile.

Nachteile der ständigen Erreichbarkeit: Stress und Überanstrengung

Jeder Mensch muss Zeit haben, seine Arbeitskraft zu regenerieren und benötigt daher Erholung von der Arbeit. Durch eine ständige Erreichbarkeit auch ausserhalb der Bürozeiten wird dies nicht nur erschwert, sondern teilweise auch unmöglich gemacht. Das belastet nicht nur den Arbeitnehmer oder Unternehmer, sondern auch dessen Familie. Nicht selten brechen Familien durch diese Mehrbelastung auseinander und die Lage verschärft sich noch mehr.

Auch das Unternehmen selbst leidet unter der ständigen Erreichbarkeit indirekt: Denn bei den Betroffenen steigt unter Umständen das Risiko von psychischen Erkrankungen, was wiederum zu beruflichen Ausfallzeiten führt. Letztendlich resultiert daraus eine Mehrbelastung der gesamten Abteilung. Diese Risiken haben auch einige Unternehmen erkannt. Daimler stellt es seinen Arbeitnehmern frei, E-Mails, die nach der Arbeit auf dem Diensthandy ankommen, automatisch zu löschen und die Beschäftigten von VW erhalten bereits seit Dezember 2011 keine E-Mails mehr.

Somit sind die verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten mit der damit verbundenen ständigen Erreichbarkeit im Beruf zugleich Segen und Fluch. Auf der einen Seite können sich so kurzfristig bietende Chancen besser ergriffen, die Flexibilitätspotenziale genutzt und auch Produktivitätsvorteile generiert werden. Hinzu kommt die Möglichkeit, diesen technischen Fortschritt auch für das Privatleben besser nutzen zu können. Andererseits drohen Stress und Überanstrengung, die zum einen die Gesundheit und zum anderen das Familienleben gefährden können.

Entscheider sollten sich daher bemühen, hier die richtige Balance zu finden. Es gilt dabei, die Chancen der ständigen Erreichbarkeit positiv zu nutzen und gleichzeitig die damit verbundenen Risiken zu minimieren. Bei besonders dringenden und wichtigen Projekten kann es fallweise sinnvoll sein, auch ausserhalb der Arbeitszeit und des Büros erreichbar zu sein. Durch entsprechende Freiräume ausgeglichen – zum Beispiel durch die Möglichkeit, während der Geschäftszeit auch privat erreichbar zu sein – wandelt sich dieser vermeintliche Nachteil schnell zum Vorteil.